DAS INNERE LAND
DAS INNERE LAND
Der berühmte rumänische Religionsphilosoph Mircea Eliade setzte 1951 den Definitionsmaßstab, der bis heute gilt und der es ermöglichte, den gleichen Kern schamanischer Erfahrung weltweit in den Ritualen der Eingeborenenvölker zu finden: Schamanen sind "Meister der Extase", sagt er. Mit modernen Worten: Sie sind Spezialisten für veränderte, außergewöhnlicher Bewusstseinszustände, Meister der Trance also. Schamanismus ist damit als spirituelle Heilungsarbeit definiert. Möglich, dass gleichzeitig, vorher oder danach auch mit anderen Methoden gearbeitet wird- mit Naturmedizin, Massagen und anderem – Schamanismus im eigentlichen Sinne aber ist eine Heilung mit Hilfe des Bewusstseins.
Weil sie Geister sehen, mit Geistern sprechen, weil sie in wilden, ekstatischen Tänzen den Weg in die Trance suchen, weil sie den normalen Bewusstseinszustand sichtbar verlassen, haben die ersten Feldforscher und viele Generationen von Ethnologen in den Schamanen oft die Geisteskranken einer Gesellschaft gesehen, die Außenseiter. Dabei waren die Schamanen in den klassischen Kulturen immer vollständig in den Alltag eingebunden – Schamanismus ist historisch kein Hauptberuf. Die Behandlung war meist unentgeltlich – aber natürlich gaben die Patienten oder ihre Angehörigen etwas, oft nur eine symbolische Gabe, und das Geschenk wurde meist akzeptiert ( wenn es nicht zu groß ausgefallen war, denn das mochten die Hilfsgeister nicht). Tagsüber hatten die Schamanen die gleichen Pflichten wie alle anderen Stammesmitglieder und mussten für ihren Lebensunterhalt selbst aufkommen.

Schamanismus und Religion

Schamanismus ist wahrscheinlich die erste spirituelle Praxis der Menschheit. Früher wurden die Tierszenen in den Steinzeithöhlen- viele sind um die 20.000 Jahre alt- durchweg als Ausdruck primitiver Jagdmagie gedeutet (so als ob die Menschen der Vorzeit zwischen Bildern und Alltagswirklichkeit nicht unterscheiden konnten). Heute sieht eine neue Generation von Forschern die Bilder differenzierter: manche Tierkörper, die aus den Wänden hervorzutreten scheinen, könnten auch eine Darstellung von Tiergeistern sein - vielleicht die Verbündeten früher Schamanen, die in der Höhle auf die Suche nach der Vision gingen. Die Höhle als Eingang in die Untere Welt - als Ort die Initiation- ist in geschichtlicher Zeit nachweisbar und dürfte auch in der Frühzeit der Menschheit eine ähnliche Rolle gespielt haben. Bisweilen sind auf den Höhlenwänden auch Menschen mit Tierköpfen zu sehen. Moderne Forscher interpretieren diese Bilder als Darstellung von Trance-Erfahrungen, von Schamanen, die sich mit einem Tier-Geist verbinden, oder – noch einfacher- als Darstellung eines schamanischen Maskentanzes, der eben jene Identifikation mit dem persönlichen Verbündeten zum Ziel hat. Seit 1968 hat die amerikanische Kulturanthropologin und Religionspsychologin Dr. Felicitas Goodman die rituellen Körperhaltungen, in denen Meditierende in der archaischen Kunst dargestellt werden, ausführlich dokumentiert. Mehr als 20 dieser Haltungen wurden mit Versuchspersonen nachgestellt und die subjektive Wirkung überprüft. Es stellte sich heraus, dass es – in Verbindung mit dem gleichmäßigen Geräusch der Rassel- in diesen besonderen Körperhaltungen leicht fällt, in veränderte Bewusstseinszustände zu wechseln.
Seit Eliade ist klar: Schamanismus ist ein weltweites Phänomen. Er existiert bis heute parallel zu den großen Religionen und sieht sich nicht unbedingt in Konkurrenz. Probleme entstehen eher aus der Sicht vor allem der monotheistischen Religionen: sie erkennen nur eine schamanische Erfahrung an, die ihres Propheten und Gründers- und die von offiziellen Heiligen. Alle anderen sind da schnell des Teufels.
Schamanismus ist im Vergleich zu den Offenbarungsreligionen sozusagen demokratisch – und empirisch: Es zählt die persönliche Erfahrung, aber mit- theoretisch- unzähligen Propheten lässt sich natürlich schwer eine Religion managen.
Auch heute noch existieren schamanisch-animistische Grundvorstellungen parallel zu Buddhismus, Christentum und Islam. Die schamanische Tradition in Tuva, einem Land an der Grenze zur Mongolei – ist eng verbunden mit dem Lamaismus. Die Maya in Guatemala beten bis heute auch noch zu den alten Göttern und Geistern- in Chichicastenango sogar auf den Stufen der Kirche und in der Kirche selbst. Und im gesamten nordafrikanischen Raum ist der Glaube an die Dschin weit verbreitet -Geister, die zu Helfern des Menschen werden können.

Die Entdeckung eines Ethnologen

1961 begann Michael Harner, amerikanischer Ethnologe aus New York, seine Feldforschung bei den Shipibo-Conibo Indianern in Peru. Sehr bald stand er vor dem alten Dilemma der Ethnologen: Er sah die Rituale der Indianer, hörte die Geistergeschichten, aber er kam über eine interpretierende Beschreibung nicht hinaus. So entschloss er sich zu einem persönlichen Experiment, zu einer neuen Methode, die über teilnehmende Beobachtung weit hinausgeht: Er bat um Initiation ( zur gleichen Zeit übrigens begann Carlos Castaneda seine Lehrzeit bei Don Juan).
In einer nächtlichen Séance trank Harner den Saft der Liane – unter der Aufsicht erfahrener Conibo-Indianer. Seine erste Reise führte ihn in eine Vision, die sein Leben und sein Denken veränderte.
Nach dieser Initiation suchte Harner weitere Erfahrungen bei den Jivaro-Indianern im Grenzgebiet von Ecuador und Kolumbien, bevor er seine Forschungsarbeit in den USA fortsetzte, bei den Indianern der Nordwest-Küste. Harner erkannte: die meisten Völker benutzen Rhythmus- Instrumente, um Trancezustände zu erreichen – vor allem die Trommel und die Rassel, aber auch das Dijeridou in Australien oder ganz einfache Methoden wie rhythmisches Schlagen von Steinen ( eine Visionssuche-Praxis der Eskimo-Völker). Das Ziel ist immer, den normalen Bewusstseinszustand zu verändern, um Zugang zu anderen Wahrnehmungen zu erhalten. Die meisten Rituale finden nachts statt oder in abgedunkelten Räumen.
Das Ergebnis von Harners Forschung: Die Trance-Zustände sind unterschiedlich tief, aber das System hat weltweit den gleichen Kern: Schamanen reisen in andere Welten, um Kraft zu holen, um verlorene Seelen zurückzuholen oder auf der Suche nach der Weisheit der Anderswelt- um sie im normalen Leben für die Lösung schwieriger Fragen zu nutzen oder Kranke zu heilen. Und Schamanen sehen überall auf der Welt in diesem Zustand Dinge, die am falschen Platz sind, Eindringlinge in den Körper oder die Seele eines Patienten, und ziehen den Eindringling heraus.
Die Initiation ist schwierig, in manchen Traditionen lebensgefährlich: In Sibirien zum Beispiel berufen die Geister den künftigen Schamanen meist während einer schweren Krankheit. Nur wer dem Tod knapp entronnen ist, so die Tradition, kann Spezialist für Heilung werden. "Schamanenkrankheit" nennt die ethnologische Literatur dieses Phänomen. Oft wird die Fähigkeit auch in der Familie weitergegeben, in jedem Fall ist eine lange Ausbildung nötig. Bei den Huicholes in Mexiko dagegen schamanisiert jedes Mitglied eines Dorfes ein wenig- schon Kinder werden mit kleinen Dosen des halluzinogenen Peyote-Kaktus an außergewöhnliche Bewusstseinszustände herangeführt. Die Erfahrungen eines Schamanen stehen dort also mehr oder weniger jedem offen.
Der Weg, sich selbst zu entscheiden für schamanische Arbeit und die Vision gezielt zu suchen ist wahrscheinlich der langwierigste, die "klassische Initiation" über eine schwere Krankheit und womöglich ein Nahtodeserlebnis ohne Zweifel der härteste. Am Ende steht nur die Frage: Ist das was ich tue, in irgendeiner Form wirkungsvoll oder nicht – wenn es nicht wirkt für andere, kann es noch mir selbst helfen, und das ist schon viel.
Harners Kunstgriff: alle Mythen, die die kulturelle Unterschiedlichkeit der Menschen spiegeln – vom feucht-heißen Amazonas bis in die Eisregionen der Arktis- nimmt er Stück für Stück weg wie Kleider, die die eigentliche Gestalt verdecken. Was er so enthüllt, nennt er Core-Shamanism , den schamanischen Kern aller unterschiedlichen Praktiken. Um diesen Kern geht es, wenn im Westen Menschen beginnen, schamanisch zu praktizieren.

Reiseziele und Verbündete

Aber : wohin genau reist der Schamane ? Was sieht er? Wie ordnet er die Welten zueinander? Und- wissenschaftlich gesprochen: findet die Reise in seinem Kopf statt oder womöglich irgendwo außerhalb ?
Drei Reiseziele gibt es, wie schon erwähnt: Die Untere, die Mittlere und die Obere Welt.
Die Untere Welt ist der Ort der helfenden Geister. Meist treten sie in Tiergestalt auf , auch als Geister der Pflanzen und der Elementarkräfte. Bisweilen können in diesen Landschaften auch Seelen Verstorbener leben oder Seelenteile von Menschen, die krank sind oder im Traum unwissentlich auf die Reise gehen. Die Seelen der Menschen können sich überall verlieren in den Welten der nicht-alltäglichen Wirklichkeit.
Die Mittlere Welt ist die Welt des Hier und Jetzt, aber ihr nichtalltäglicher Aspekt, das Nicht-sichtbare. Außerkörperliche Erlebnisse und Astralreisen sind Reisen in der Mittleren Welt, wenn sie in die Landschaften unserer Alltags- Erfahrungen führen. Auch die Naturgeister, die Devas, das "kleine Volk" der Kelten, leben hier.
Die Obere Welt schließlich ist der Ort der Weisheit, das Land der Ratgeber, der spirituellen Lehrer.
Natürlich sind die Begriffe Obere, Mittlere und Untere Welt nur Umschreibungen, der Versuch, die Erfahrungen der nicht-alltäglichen Wirklichkeit in der Sprache des Alltags auszudrücken.
Schamanen brauchen für ihre Reisen spirituelle Helfer, Verbündete. Ein oder auch mehrere Kraft-Tiere sind sozusagen die Basis, die Tier-Geister können unterschiedliche Aufgaben übernehmen und wechseln bisweilen auch. Bei manchen Völkern gibt es kollektive Tiere, etwa den Hirsch bei den Huichol oder die Anaconda im Amazonasgebiet, oft auch Tiere, die jeweils für einen Stamm von besonderer Bedeutung sind.
Noch einmal die Frage: wohin reist der Schamane? Jetzt einmal wissenschaftlich betrachtet: Sind das innere Welten, Phantasien oder Träume, oder steckt mehr dahinter ?

Phantasie oder Realität?

Natürlich hat die Wissenschaft darauf noch keine endgültige Antwort. Die meisten Forscher sehen hier einen lebendigen Mythos am Werk, also subjektive und durch die Vorstellungen von Gruppen, Stämmen oder Völkern geformte und gefärbte individuelle Erlebnisse, die keine Aussagekraft haben, es sei denn für das Individuum, das diese Erfahrungen macht.
Forscher verschiedener Universitäten ( z.B. Wien und Gießen ) haben im Rahmen eines Projektes über veränderte Bewusstseinszustände im Labor untersucht, ob bestimmte rhythmische Bewegungen oder monotones Trommeln tatsächlich messbar den Bewusstseinszustand verändern. Das Ergebnis ist: Sie tun es. Rhythmisches Schaukeln auf einer Kipp-Liege, lang anhaltendes Tanzen in immergleichen Bewegungen und Trommelschläge mit einem Rhythmus von etwa 220 Schlägen pro Minute bringen das Gehirn in einen hypnoiden Zustand. Im EEG kann man eine Theta- Schwingung (4-7Hz) messen, ein Wert ähnlich dem, der in der Einschlafphase und während der REM-Phase gemessen wird, also während des Träumens. Damit ist jetzt wissenschaftlich belegt: Reisen mit Hilfe der Trommel sind keine Imaginationen im Sinne von einfachen tagträumerischen Phantasien, sondern deutlich tiefere Trancezustände. Anders als beim normalen Traum bleibt das Bewusstsein aber klar und präsent und der Reisende ist sich stets bewusst, dass er reist- er bleibt mit einem Bein in der Alltagswirklichkeit. In Australien sprechen die Aborigines von der "Nutzung des mächtigen Auges" wenn sie diese Erfahrung beschreiben- und sie erklären, dass bei dieser Form des Sehens ein Teil des Bewusstseins stets auf der Erde bleibt.
Die Trance mit Hilfe der Trommel ist sicher nicht so tief wie etwa nach der Gabe einer hohen Dosis Ayahuasca, aber wahrscheinlich tiefer als bei geführten Phantasiereisen oder dem katathymen Bilderleben. Die sogenannte Oberstufe des Autogenen Trainings, bei der es um Kontaktaufnahme mit "inneren Ratgebern" geht, kommt der schamanischen Reise auch inhaltlich recht nahe. Alle diese Methoden sind verwandt, sie nutzen Trancezustände, aber sie sind unterschiedlich tief. Auch mit der Trommel geraten nicht alle Menschen gleich schnell in den gleich tiefen Zustand. Je länger die Vorbereitung, umso tiefere Zustände sind erreichbar. Dies ist wichtig für die Beantwortung der entscheidenden Frage: Wenn ich eine schamanische Reise unternehme- bilde ich mir das alles nur ein? Oder sehe ich tatsächlich eine "andere Wirklichkeit"?
Kritiker merken an, dass unterschiedliche Kulturen auch unterschiedliche Bilder sehen – ein Beweis für die Subjektivität der Erfahrung. Diese Kritik übersieht, dass das Grundprinzip weltweit gleich ist – also der Kontakt mit dem , was erfahrene Reisende "Die Kraft" nennen. Aber diese unnennbare Kraft muss übersetzt werden in das Denken und die Sprache der Dreidimensionalität, muss ins Hier und Jetzt geholt werden- wird also zu Bildern und Worten. Jeder sieht diese Kraft mit den Augen der eigenen Kultur und gibt ihr damit Gestalt und Namen – es ist also nicht verwunderlich, dass im Regenwald andere Krafttiere auftreten als in der Taiga Sibiriens oder in Mitteleuropa.
Die Gefahr, Dinge bewusst "herbei zu imaginieren" ist immer da, aber je tiefer der Trancezustand, umso geringer die Gefahr, sich selbst zu belügen. Letztendlich entscheidet die Wirkung und nicht die Theorie: Findet der Reisende eine Antwort, die Sinn macht? Ist die Antwort vielleicht völlig unerwartet, also vom Intellekt nicht in Betracht gezogen? Findet Heilung statt im psychologischen oder physischen Sinn?
Wer sich auf diese Form der spirituellen Arbeit einlässt, erhält keine Garantien, von niemandem – im Schamanismus gibt es keine Gurus. Paradoxerweise ist es gerade die Kontrolle, die schamanische Arbeit behindert – der Versuch, ein Ergebnis zu erzwingen. Gleichzeitig muss der schamanisch Reisende aber immer die Absicht der Arbeit eindeutig festhalten, er muss eine Aufgabe, ein Ziel festlegen – sonst werden die Bilder unscharf, zusammenhanglos, assoziativ. Der Schamane steht also vor einer paradoxen Aufgabe: mit einem klaren Ziel vor Augen muss er sich voll und ganz anderen Kräften überlassen – kein Wunder, dass dies nicht immer gelingt.
Eine wichtige Aufgabe der Schamanen aller Kulturen war die Begleitung von Sterbenden und ihrer "davoneilenden Seelen". Zahlreiche ethnologische Berichte lassen erstaunliche Parallelen zu den Erfahrungen moderner Rückkehrer von der Grenze des Todes erkennen. Schamanen waren und sind tatsächlich Spezialisten für jene Welt, in die viele, vielleicht alle Menschen am Ende ihres Lebens eintreten: eine Welt der Bilder, der Visionen, der veränderten Wahrnehmung der Wirklichkeit. Für die Schamanen war immer selbstverständlich, dass jenseits des Todes gewaltige Seelenlandschaften liegen, denn sie erkundeten die verzweigten Ebenen der "nicht-alltäglichen Wirklichkeit" Zeit ihres Lebens. Auch wenn wir diesem Jahrtausende alten Glauben vielleicht nicht folgen wollen, lohnt es sich doch, das Erfahrungs-wissen der Schamanen genau zu betrachten: Es kann uns Aufschluß geben über einen besonderen Zustand, der wohl allen Menschen offen steht.
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© Joachim Faulstich